Biedenkopfer Grenzgangsbriefe

Erst­ver­öf­fent­li­chung: Heinzerling’sche Buch­dru­cke­rei, Bie­den­kopf 1907


Der Autor ist anonym.

I.

Bie­den­kopf, 14. Aug. 07.

Lie­ber Freund!

Die­se ers­ten Zei­len schrei­be ich unter dem erhe­ben­den Ein­druck der fest­li­chen Vor­be­rei­tun­gen, die man hier trifft, um den kom­men­den Tagen äußer­lich ein wür­di­ges Geprä­ge zu geben. Die Stadt ist herr­lich geschmückt, wohl kein Häus­chen ist zu ent­de­cken, an dem nicht wenigs­tens eini­ge Fich­ten­zwei­ge oder ein paar beschei­de­ne Kränz­chen befes­tigt sind, um zu zei­gen, daß der Bewoh­ner an dem Fes­te sei­ner Vater­stadt herz­li­chen Anteil nimmt. Schier unzäh­lig aber sind die Fah­nen und Wim­peln, die im Ver­ei­ne mit duf­ten­den Guir­lan­den aus Tan­nen­grün den Stra­ßen und Plät­zen ein so groß­ar­ti­ges Fest­ge­wand ver­lei­hen. Impo­san­te Ehren­pfor­ten schmü­cken die Stra­ßen­ein­gän­ge. Ueber­all fal­len die frisch­ge­putz­ten Fas­sa­den auf, und ich gehe sicher nicht zu weit, wenn ich die Zahl der Häu­ser, an denen die Anstrei­cher tätig gewe­sen, auf hun­dert schät­ze. Ueber dem gan­zen Städt­chen ruht Fest­esstim­mung, die Bewoh­ner freu­en sich tat­säch­lich auf die bevor­ste­hen­den Tage, und an die­ser Freu­de merkt man, daß es mit dem Granz­gangs­fes­te doch sei­ne eig­ne Bewand­nis hat. Es ist nicht ein Jux­fest wie so vie­le, so ohne jeden Hin­ter­grund und tie­fe­re Bedeu­tung, nein, die­ses Grenz­gangs­fest hat doch einen höhe­ren Wert und schon sein ehr­wür­di­ges Alter sichert ihm eine Daseins­be­rech­ti­gung, die ihm Nie­mand neh­men kann. Als alter Bie­den­köp­fer kennst Du sei­ne Vor­ge­schich­te und Du weißt auch, mit wel­cher Lie­be der Hin­ter­län­der Kreis­städ­ter an sei­nem Grenz­gang hängt, mit wel­cher Ach­tung er von ihm spricht und Du wirst Dir daher wohl den­ken kön­nen, daß auch in die­sem Jah­re die Flam­me der Begeis­te­rung hoch schlägt. Wie die Alten gesun­gen, so zwit­schern die Jun­gen! Und wenn man­cher­lei, was die­se tun, dem Alter nicht so ganz ver­stän­dig schei­nen, wenn es den Ueber­mut nicht begrei­fen will, mit dem das jun­ge Volk die Vor­be­rei­tun­gen zum Fes­te beglei­tet, so mag eben der ver­än­der­te Gesichts­win­kel dar­an schuld sein, unter dem der Mensch in vor­ge­rück­te­ren Jah­ren das Leben und Trei­ben der her­an­wach­sen­den Gene­ra­ti­on betrach­tet. Gewiß: kei­ne Regel ohne Aus­nah­me, aber im gro­ßen und gan­zen läßt sich von all den Sit­zun­gen, die Män­ner und Bur­schen abge­hal­ten haben, auch dies­mal wie­der sagen, daß sie ein­mü­tig, und ohne Miß­klang ver­lau­fen sind, und wenn die Teil­neh­mer hin und wie­der etwas aus­ge­las­se­ner waren, als Bür­ger mit erns­ten Lebens­an­schau­un­gen es ver­tra­gen kön­nen, so mag man sich damit trös­ten, daß nur alle sie­ben Jah­re Grenz­gang ist. – Aus dem Fest­pro­gramm, das ich Dir zukom­men ließ, hast Du erse­hen, daß das Fest sich wie­der so ziem­lich im Rah­men des Her­ge­brach­ten hal­ten soll. Daß es zur Ver­an­stal­tung einer sol­chen his­to­ri­schen Fei­er wie­der vie­ler Arbeit und Mühe, vie­ler lang­at­mi­ger Vor­be­ra­tun­gen bedurf­te, wirst Du begrei­fen und aus eig­ner Erfah­rung wis­sen. Das Zwölf­män­ner­ko­mi­tee hat­te alle Hän­de voll zu tun und auch die Tagun­gen der Män­ner­ge­sell­schaf­ten und der Bur­schen­schaf­ten waren von­nö­ten, um alles in die rich­ti­gen Bah­nen zu len­ken, ganz beson­ders aber, um zu „trai­nie­ren“ und sich nach und nach in die erfor­der­li­che Grenz­gangs­stim­mung hin­ein­zu­le­ben. Das Frei­bier spiel­te natür­lich dabei eine Haupt­rol­le und die Men­gen, die zur Ver­fü­gung stan­den und noch ste­hen, las­sen einen Schluß auf die guten Zei­ten zu, in denen wir leben. Man erzählt sich, daß eine der grö­ße­ren Bur­schen­schaf­ten schon in den ers­ten Tagen ihres Bestehens etwa 2000 Liter Frei­bier zu ver­zeich­nen hat­te. Aber nicht bei Freibier ist es dies­mal ver­blie­ben, auch Freikaf­fee hat es gege­ben, den sich die Damen einer der grö­ße­ren Stra­ßen leis­te­ten. – Mit den Wah­len des Män­ner­o­bers­ten sowohl als auch des Bur­schen­obers­ten hat man einen glück­li­chen Griff getan, Bei­de sym­pa­thi­sche Leu­te aus guten, ange­ses­se­nen Bürg­erfa­mi­li­en, aus­ge­stat­tet mit ech­ten Bür­ger­tu­gen­den und durch­drun­gen von treu­er Lie­be zu ihrer Hei­mat und deren Sit­ten, dane­ben statt­li­che Erschei­nun­gen, die sich recht dazu eig­nen, den „Unter­ta­nen“ zu impo­nie­ren. Ich freue mich dar­auf sie an der Spit­ze der Rei­ter­schar zu sehen, die da bestimmt ist, dem Fest­zu­ge wie­der das ihm eig­ne schö­ne Bild zu ver­lei­hen.

Die Bur­schen­schaf­ten sind heu­er ganz beson­ders stark. Beim Mili­tär soll es vor­kom­men, daß ein Oberst zwei Bur­schen hat, unser Bur­schen­oberst hat deren aber nahe­zu 400! Sie ver­tei­len sich auf 7 Bur­schen­schaf­ten, von denen die stärks­te die der Ober­stadt mit rund 100 Bur­schen ist. Ihr fol­gen die Bur­schen­schaf­ten Karl Schmidt (der Namen „Lip­se­rei“ wird Dir geläu­fi­ger sein), Hoff­mann (auf der Bach), Adolf Schä­fer-Tau­win­kel, Lud­wigs­hüt­te, Gal­gen­berg und Eugen Göbel.

Die Frem­den­fre­quenz ist rie­sig. Unter die „Frem­den“ begrei­fe ich natür­lich auch die vie­len, vie­len Ange­hö­ri­gen unse­rer Bie­den­köp­fer. Nicht eine Fami­lie, die nicht ihren „Besuch“ hät­te. Bekann­te lie­be Gesich­ter sind dar­un­ter, aber auch Leut­chen, die sich sel­te­ner sehen las­sen und uns daher, wie man zu sagen pflegt, aus den Augen gewach­sen sind. Auch aus der neu­en Welt sind eini­ge Fami­li­en ein­ge­trof­fen, dar­un­ter ein Bie­den­köp­fer, der sei­ne Vater­stadt seit 45 Jah­ren nicht gese­hen hat. Natür­lich begeg­net das Grenz­gangs­fest auch dem Inter­es­se unse­rer Kur­gäs­te, die in die­sem Jah­re und unge­ach­tet der ungüns­ti­gen Wit­te­rungs­ver­hält­nis­se in so gro­ßer Zahl vor­han­den sind und alle Pen­si­ons­häu­ser bis unter die Dächer fül­len.

Was soll ich Dir nun noch alles erzäh­len?

Einst­wei­len erwar­te ich mit Span­nung den heu­ti­gen Abend, der uns die Vor­fei­er beschee­ren soll. Ich zweif­le nicht dar­an, daß er eine wür­di­ge Ein­lei­tung der fest­li­chen Ver­an­stal­tun­gen sein wird und bin neu­gie­rig auf die pyro­tech­ni­schen Leis­tun­gen uns­res Kamin­rats, der dies­mal an Stel­le einer Schloß­be­leuch­tung eine fest­li­che Beleuch­tung des Kreis­krie­ger­denk­mals vor­neh­men wird. Der Him­mel ist trü­be, aber Weil­burg pro­phe­zeit „Fort­dau­er des jet­zi­gen Wit­te­rungs­cha­rak­ters“. Das beru­higt mich. Mor­gen mehr. In Freund­schaft.

Dein ***


II.

14. August, Abends 10 Uhr.

Mein Lie­ber!

Nun liegt die „Vor­fei­er“ hin­ter uns. Sie ist gut ver­lau­fen und hat­te, wie nicht anders zu erwar­ten, einen unge­heu­ern Men­schen­auf­lauf auf dem Markt, dem Schau­plat­ze der beab­sich­tig­ten Denk­mal­be­leuch­tung, ver­ur­sacht. Nach­dem der ers­te Böl­ler vom Schloß­berg den Beginn der Fei­er sehr ver­nehm­bar ange­kün­digt, zog der übli­che Zap­fen­streich durch das Städt­chen. Dem Zeit­geis­te fol­gend, war auch er etwas bes­ser aus­ge­stal­tet, zu den Tromm­lern hat­te sich eine Anzahl geschul­ter Pfei­fer gesellt, so daß man von einem voll­stän­di­gen Spiel­manns­korps spre­chen konn­te. Sei­ne takt­fes­ten Wei­sen tru­gen denn auch nicht unwe­sent­lich zur Hebung der Fest­stim­mung bei. Dann gab es Kon­zert „auf bei­den Markt­plät­zen“. Du errätst, daß unter dem zwei­ten Markt­platz der Platz oben beim Rat­haus gemeint ist, der soge­nann­te Ober­städ­ter Markt­platz. Er ist zwar längst kein Markt­platz mehr, aber bei fest­li­chen Gele­gen­hei­ten, inson­der­heit jedoch beim Grenz­gangs­fest, wol­len die Ober­städ­ter auf die­sem Plat­ze ihre Musik haben, gra­de so, wie sie damals ihre elek­tri­sche Bogen­lam­pe bean­spruch­ten. Und die Leu­te haben ganz recht. Also es gab Kon­zert auf bei­den Markt­plät­zen. Ein herr­li­cher Som­mer­abend war’s. Und „unter den Lin­den“ gings recht leb­haft zu, denn hier lag der Schwer­punkt der gan­zen Fei­er, schon des­halb, weil das Krie­ger­denk­mal beleuch­tet wer­den soll­te. Wie alle Beleuch­tun­gen, die seit­her in den Hän­den unse­res mit der Feu­er­werks­kunst so sehr ver­trau­ten Herrn Pfeil lagen, einen vol­len Erfolg zu ver­zeich­nen hat­ten, so auch die heu­ti­gen Leucht­ef­fek­te auf dem Markt­plat­ze. Sie began­nen mit ben­ga­li­schem Rot­feu­er, das sei­nen wun­der­vol­len Schein auf die mosi­gen Grün­stein­blö­cke und die schon oft bewun­der­te Bron­ce­grup­pe warf. Eine gro­ße Zahl wir­kungs­vol­ler Leucht­ku­geln und ande­rer far­ben­präch­ti­ger Feu­er­werks­ef­fek­te bil­de­te den Ueber­gang zum fol­gen­den Schau­spiel, einen wahr­haft feen­haf­ten Sil­ber­was­ser­fall, der von der Höhe des Denk­mals glit­zernd her­nie­der­stürz­te. Mit die­ser Glanz­num­mer und einer noch­ma­li­gen Beleuch­tung des Monu­men­tes mit­telst ben­ga­li­schem Grün­feu­er ende­te die präch­ti­ge pyro­tech­ni­sche Vor­füh­rung, die der Kunst­fer­tig­keit und dem Geschmack unse­res Mit­bür­gers Carl Pfeil I. wie­der mal ein vor­züg­li­ches Zeug­nis aus­stell­te und von der gro­ßen Men­schen­schaar mit lau­ten Bei­falls­ru­fen beglei­tet wur­de. Nach und nach ver­lie­fen sich dann die fest­lich gestimm­ten Zuschau­er und bald lag der Markt­platz in stil­ler nächt­li­cher Ruhe da. Wie wird das Wet­ter mor­gen wer­den? Das ist eine wich­ti­ge Fra­ge, die viel erör­tert wur­de. Die „Lämm­chen“ am Fir­ma­ment sind so bedenk­lich und das Queck­sil­ber im Ther­mo­me­ter beginnt lang­sam zu sin­ken. Hof­fen wir den­noch das bes­te. Gute Nacht, mein Lie­ber.

Dein ***


III.

15. Aug. 1907, 2 Uhr nachm.

Lie­ber Freund!

Soeben kom­me ich zurück vom Grenz­gang. Ich habe ihn mit­ge­macht von A bis Z und Du weißt, das ist eine net­te Leis­tung. Bevor ich mich zum Nach­mit­tags­fest­zu­ge nach dem See­wa­sem rüs­te, sen­de ich Dir die­se Zei­len, die Dich unter­rich­ten sol­len haupt­säch­lich von dem, was sich heu­te bis zu die­ser Stun­de zuge­tra­gen hat. Um fünf Uhr früh, die Däm­me­rung war kaum über­stan­den, fiel der ers­te Böl­ler, dann Trom­mel­schlag durch die Stra­ßen der Stadt, auf Deutsch: Reveil­le. Lus­ti­ges Peit­schen­knal­len und von 6 Uhr ab wie­der Kon­zert auf den Markt­plät­zen unten und oben. Das Wet­ter war groß­ar­tig. Von 6½ Uhr voll­zog sich die Auf­stel­lung des Fest­zu­ges in gewohn­ter Wei­se. Wer wagt zu bestrei­ten, daß die­ser Akt wahr­haft fei­er­lich und gera­de­zu erhe­bend ist? Unver­ges­sen bleibt er vor allem dem, der ihm als Zuschau­er jemals bei­gewohnt und den Schneid bewun­dert hat, mit dem sich die Grup­pie­rung die­ses Grenz­gangs­fest­zugs voll­zog. Da gab es auch heu­te kei­nen fal­schen Schritt, kein unrich­ti­ges Ein­schwen­ken oder der­glei­chen, auch kein hör­ba­res Kom­man­do, kurz­um man war ver­sucht, zu glau­ben, daß die­ser Zug­for­mie­rung eine mehr­wö­chi­ge Pro­be vor­an­ge­gan­gen sei. Jede Grup­pe fand schnell den ihr in der Zug­ord­nung ange­wie­se­nen Platz, sodaß das Gan­ze für den Zuschau­er einen voll­ende­ten Ein­druck mach­te. Der Ein­zug der bei­den Obers­ten mit ihrem glän­zen­den Offi­ziers­ge­fol­ge gestal­te­te sich zu einem ganz beson­ders fei­er­li­chen Akte. Die Män­ner­rei­ter tru­gen ein­heit­lich grü­nen Hut mit wei­ßer Feder, blaue Jop­pe und grau­es Bein­kleid, dazu Schär­pen blau-oran­ge, wäh­rend die berit­te­nen Bur­schen mit der­sel­ben Klei­dung aus­ge­stat­tet waren, aber blaue Schär­pen tru­gen. An vie­len Fah­nen bemerk­te man kost­ba­re neue Schlei­fen mit gold­ge­stick­ten Wid­mun­gen, von zar­ter Hand her­rüh­rend. – Zehn Minu­ten vor 7 Uhr kom­man­dier­te der Bür­ger­o­berst: Zug marsch! Und unter dem Tak­te der Musik, die natür­lich den belieb­ten „Grenz­gangs­marsch“ auf­spiel­te – die unsterb­li­che Wei­se wird Dir von 1900 her noch in den Ohren klin­gen – setz­te sich der impo­san­te Zug in Bewe­gung. An der Spit­ze die männ­li­che Schul­ju­gend, auf­wärts vom zehn­ten Jah­re ab – ich zähl­te 141 Kin­der – nach der ers­ten Musik­ka­pel­le die Sap­peurs von 1894, um 13 Jah­re geal­tert, dann die mäch­ti­gen Beschüt­zer der Fors­ten und die auf­ge­frisch­te Stadt­fah­ne. Es folg­ten der Bür­ger­o­berst nebst Adju­tan­ten, hin­ter ihnen die Väter der Stadt und das Komi­tee, auf dem Haup­te grü­nen Hut mit Hin­ter­län­der Adler­fe­der. Und die Män­ner-Gesell­schaf­ten, mit ihren Offi­zie­ren und Füh­rern. Die letz­te­ren tru­gen dies­mal brau­ne Jop­pen, dazu blau-grü­ne Schär­pen. Wenn ich rich­tig gezählt betrug die Zahl der Män­ner 440. Ihnen folg­ten, geführt von dem Bur­schen­obers­ten, sei­nen Adju­tan­ten und den berit­te­nen Offi­zie­ren und Füh­rern mit rot-wei­ßer Schär­pe, die Bur­schen­schaf­ten, eine schier unüber­seh­ba­re Men­ge. Der Zug nahm sei­nen Weg durch die Stadt­gas­se, Ober­gas­se und kehr­te durch die Kot­ten­bach­stra­ße auf den unte­ren Markt­platz zurück, dort einen Halb­kreis um das Denk­mal bil­dend. Ein Trom­pe­ten­ruf ermahn­te zur Ruhe und von der Tri­bü­ne her­ab rich­te­te sodann Herr Bür­ger­meis­ter Grü­ne­wald sei­ne tief von Her­zen kom­men­de Anspra­che. Er begrüß­te alle Fest­gäs­te mit warm emp­fun­de­nen Wor­ten und ver­herr­lich­te das Grenz­gangs­fest als ein Frie­dens- und Hei­mats­fest, das sowohl im Fami­li­en­le­ben als auch in der Gemein­de­ver­wal­tung einen Merk­stein bil­de. Im Fami­li­en­le­ben habe es seit dem letz­ten Grenz­gang erns­te und hei­te­re Tage gege­ben, man­chen lie­ben Mit­bür­ger habe der sie­ben­jäh­ri­ge Zeit­raum von uns genom­men, auch die Gemein­de müs­se sich sagen, daß der Schritt der Zeit nicht spur­los an ihr vor­über­ge­gan­gen sei. Red­ner weist auf die Neue­run­gen hin, die der fort­schritt­li­che Geist geschaf­fen, er preist den Frie­den, unter des­sen Regime die Stadt an ihrer Aus­ge­stal­tung habe arbei­ten kön­nen. Mit dem Wor­te Frie­de aber ver­knüp­fe sich der Name des Kai­sers, dem schließ­lich das Hoch galt, das unser Stadt­ober­haupt anstimm­te. Begeis­tert nahm es die Fest­ver­samm­lung auf und tau­send­stim­mig scholl es durch die kla­re Mor­gen­luft. Lau­ter Bei­fall dank­te dem Red­ner für sei­ne Wor­te. Nun gings mit schmet­tern­der Musik durch die Hain­stra­ße gen Lud­wigs­hüt­te. Hier sol­len die Offi­zie­re ein opu­len­tes Früh­stück bei dem Herrn Bur­schen­obers­ten ein­ge­nom­men haben. Im übri­gen folg­te der Grenz­zug sei­nen vor­ge­schrie­be­nen Bah­nen. Auf wel­che Wei­se aber die Mehr­zahl der Fes­tes­freu­di­gen den beschwer­li­chen Weg abzu­kür­zen und sich zu erleich­tern wuß­te, ist Dir von frü­he­ren Grenz­gän­gen her bekannt, und daß die Bequem­lich­keit, mit der man in Fuhr­wer­ken jeg­li­cher Art das Ziel zu errei­chen zu suchen pflegt, grö­ßer gewor­den ist, das liegt so eben im Zug der Zeit. Wie es auf dem Früh­stücks­plat­ze zuge­gan­gen, dar­über ein ande­res mal. Heu­te nur so viel noch, daß in der drit­ten Nach­mit­tags­stun­de, da ich Dir die­se Rei­hen schrei­be, ein schwe­res Wet­ter her­nie­der­geht, es reg­net in Strö­men, und der Don­ner kracht mit den Böl­lern, die vom Schloß­berg aus zum Nach­mit­tags­zu­ge rufen, um die Wet­te. Scha­de um die Kin­der­schar, die sich so sehr gefreut hat, in geschlos­se­nen Rei­hen mit auf den See­wa­sem zie­hen zu dür­fen. Mit Herz und Hand

Dein ***


IV.

15. August, abends 11 Uhr.

Lie­ber Freund!

Nun will ich Dir, noch ehe ich mich zur Ruhe bege­be, über den Ver­lauf der Früh­stücks­fei­er­lich­keit auf dem Thäl­chens-Tri­esch berich­ten. Das aller­dings ist kei­ne leich­te Auf­ga­be. Wie sich das Leben bei einem Grenz­gangs­wald­früh­stück abspielt, das weißt Du von den Grenz­gangs­fes­ten her, die Du selbst mit­ge­fei­ert hast. Und wäre das nicht der Fall, so könn­te ich Dir von all’ den Herr­lich­kei­ten eines sol­chen Früh­stücks­mor­gens doch kei­nen Begriff bei­brin­gen. So was muß mit­er­lebt wer­den. Ich bin von einem Wirts­stand zum ande­ren, von einer Män­ner­ge­sell­schaft zur ande­ren gegan­gen, ich habe mir die lecke­ren Spei­sen betrach­tet, die die geschäf­ti­gen Wir­te feil­hiel­ten, habe mir das Würst­chen­ko­chen bei offe­nem Feu­er ange­se­hen, mir hier und dort eine Tul­pe Bier erstan­den, mit lie­ben Mit­bür­gern und man­chem Fremd­ling ange­sto­ßen und dann habe ich dem Wider­hupp­chen zuge­schaut und mich selbst hupp­chen las­sen. Die Wett­läu­fer bil­de­ten wie­der ein recht schmu­ckes Paar und der Mohr hat von sei­ner Ela­s­ti­ci­tät seit 1900 nichts ein­ge­büßt. Leb­haf­ter als je erschol­len an allen Ecken und Enden die Hoch­ru­fe. Wenn auch die begeis­tern­den Wor­te der Füh­rer über­all von einem gesun­den Humor gewürzt waren, so läßt sich doch nicht bestrei­ten, daß der Füh­rer der Bach­grund- und Bahn­hof­stra­ße hier­in ganz her­vor­ra­gen­des leis­te­te. Er wuß­te Jedem ein Ver­schen mit auf den Weg zu geben. Ich schi­cke Dir nächs­tens eini­ge Pro­ben sei­ner köst­li­chen Rei­me. Der Ver­brauch an Bier und Eßwa­ren war über­trie­ben groß. Ein Metz­ger berich­te­te freu­de­strah­lend, er habe schon in der ers­ten hal­ben Stun­de sei­nen Vor­rat an Würst­chen ca. 360 Stück aus­ver­kauft gehabt. Mine­ral­was­ser hat­ten die Wir­te in gro­ßen Men­gen mit­ge­bracht, aber schon bald war auch dies erfri­schen­de Naß auf­ge­braucht. Köst­li­che Epi­so­den spiel­ten sich hier und dort ab, die Stim­mung war ein­zig! Auf dem direk­ten Rück­we­ge zur Stadt sol­len sich vor „Frohn­häu­sers“ auf der Hüt­te komi­sche Inter­mez­zos ver­schie­de­ner Art abge­spielt haben, alte Män­ner, die sonst gar nicht zu den Lus­tigs­ten zäh­len, haben auf offe­ner Stra­ße mit­ein­an­der Wal­zer getanzt. Nur als klei­nen Beweis für die Stim­mung bemer­ke ich dies. Der Grenz­gang mar­schier­te, wie ich Dir schon mit­teil­te, gegen 2 Uhr mit­tags in die Stadt ein, nicht ohne vor­her auf dem Staf­fel ein wenig von dem Regen­schau­er mit­be­kom­men zu haben, der eine Stun­de zuvor über­flüs­si­ger Wei­se nie­der­ging. Am Nach­mit­tag gabs, wie gesagt, ein unleid­li­ches Gewit­ter mit Platz­re­gen. Der Fest­zug konn­te daher erst um 5 Uhr den Weg zum See­wa­sem neh­men. Die Teil­nah­me am Zug war nichts­des­to­we­ni­ger recht leb­haft. Allein über 100 Ehren­da­men zier­ten ihn. Auf dem See­wa­sem hat­te es infol­ge des Regen­wet­ters recht sump­fi­ge Stel­len gege­ben und die Wirts­zel­te wie­sen arge Lücken auf, über­haupt ließ die Stim­mung zu wün­schen übrig. Der Jux­platz war mager beschickt. Nur Krä­mers Karous­sell und „Deutsch­lands berühm­tes­te Gla­dia­to­ren“, außer­dem eini­ge Mord­ge­schich­ten und die übli­chen Spiel­bu­den, alles in allem also ziem­lich wenig für Leu­te, die den Tru­bel lie­ben. Um 10 Uhr gabs Fei­er­abend und im Zuge gings heim. Dem Stadt­ober­haupt weih­te man dann noch eine Sere­na­de. Das ist ja wohl so Sit­te. Für heu­te genug. Der ers­te Tag hat­te mich müde gemacht, er war etwas sehr lang.

Herz­li­che Grü­ße!
Dein ***


V.

16. August, abends.

Mein lie­ber Freund!

Heu­te früh war ich auf der Hasen­hardt, dem Früh­stücks­plat­ze des zwei­ten Grenz­gangs­mor­gens. Außer mir waren viel­leicht noch 1200 Men­schen zur Stel­le. Der Grenz­zug, der kurz vor 7 Uhr am Markt­plat­ze abmar­schiert war, traf schon vor 9 Uhr dort ein. Und dann ent­wi­ckel­te sich ein groß­ar­ti­ges Leben und Trei­ben, ganz wie am Tage zuvor. Das Wet­ter war nach Wunsch, wenn auch nicht so son­nig wie auf dem Thäl­chens-Tri­esch. Nach­dem es zum Auf­bruch gebla­sen, setz­te wie­der ein kräf­ti­ger Tusch ein, glück­li­cher­wei­se nur von kur­zer Dau­er. Vie­le Leu­te traf er gera­de auf dem Rück­weg zur Stadt, auch der Grenz­zug bekam sein Teil ab. Am Nach­mit­tag bot der See­wa­sem ein freund­li­che­res und leb­haf­te­res Bild. Die Son­ne strahl­te vom Him­mel und groß war die Schar der Leu­te, die hin­aus­pil­ger­ten und sich in den Zel­ten güt­lich taten. Heu­te wie ges­tern hat­te man auch für güns­ti­ge und wohl­fei­le Fahr­ge­le­gen­heit gesorgt. Gleich­wie beim gro­ßen land­wirt­schaft­li­chen Fest 1906 stell­ten geräu­mi­ge Omni­bus­se die Ver­bin­dung zwi­schen Stadt und Fest­platz her. Und gar man­cher mag das Fahr­geld von 20 Pfg. dar­an gehängt haben, um mühe­los den Fest­platz zu errei­chen oder ohne Anstren­gung heim­zu­kom­men. Auch heu­te war um 10 Uhr Schluß. Altem Brau­che fol­gend bekam der Män­ner­o­berst sein Ständ­chen. Er hat es red­lich ver­dient, denn sei­ne Anstren­gun­gen waren nicht gerin­ge. Bete um gutes Wet­ter für das „hiwe­li­ge Tri­esch“. Der Herr Regie­rungs­prä­si­dent und unser alter lie­ber Herr Land­rat sind heu­te Abend hier ein­ge­trof­fen, sie wol­len sich den mor­gi­gen „Haupt­schla­ger“ anse­hen. Also bis mor­gen. Gruß und Pro­sit!

Dein ***


VI.

Sonn­tag, 18. Aug.

Mon cher!

So, das Grenz­gangs­fest 1907 wäre über­stan­den. Mit Son­nen­schein hats begon­nen, mit Regen hats geen­det. Auf dem „hiwe­li­gen“ wars ges­tern recht, recht naß. Die Auf­stel­lung des Fest­zugs ging noch tadel­los von stat­ten, eben­so der Weg zum Früh­stücks­platz. Aber, aber! Anfäng­lich moch­te man nur von Nebel, höchs­tens von einem klei­nen Sprüh­re­gen reden, all­mäh­lich aber ent­wi­ckel­te sich dar­aus ein regel­rech­ter „Nas­sau­er“, der nur zeit­wei­se und für weni­ge Minu­ten stock­te. Die Buchen boten zwar zunächst eini­gen Schutz gegen die Unbil­den des Wet­ters, spä­ter aber hiel­ten sie auch nicht mehr Stand und man wur­de eben naß, teil­wei­se recht naß. Aber das tat der his­to­ri­schen Gemüt­lich­keit kei­nen Abtrag, fast möch­te man viel­mehr behaup­ten, daß es gra­de des­halb um so leb­haf­ter war. Hoch und hoch erscholl es allent­hal­ben und des Hupp­chens und Fah­nen­schwen­kens war kein Ende. Hun­ger und Durst waren groß und alle Mund­vor­rä­te bin­nen kur­zer Frist ver­grif­fen. All­über­all Frei­bier, nur in der „neu­tra­len Wirt­schaft“ konn­te man sein Geld los wer­den, eine neue Ein­rich­tung, die sich vor­treff­lich bewährt hat. Wie gesagt, ein köst­li­cher Humor mach­te sich breit und er fand in ver­schie­de­nen „Guck­kas­ten“ sei­nen Höhe­punkt. Scha­de, daß die Fest­lei­tung dem Herrn Regie­rungs­prä­si­den­ten und dem Herrn Land­rat v. Heim­burg zu Lie­be kein freund­li­che­res Wet­ter bie­ten konn­te. Unter strö­men­dem Regen muß­te ihnen der Grenz­stein gezeigt wer­den, an dem der Bür­ger­meis­ter bei­de Her­ren herz­lich begrüß­te und ihnen ein Hoch aus­brach­te. Viel­fach durch­näßt kehr­te der grö­ße­re Teil der Früh­stücks­gäs­te gegen 1 Uhr in die Stadt zurück, wäh­rend die Gesell­schaf­ten mit den Fah­nen erst gegen 2½ Uhr ein­rück­ten, kreuz­fi­del natür­lich. Am Grenz­stein unter­halb der Erlen­müh­le hat­te der Män­ner­o­berst sei­ne pro­gram­mä­ßi­ge Anspra­che gehal­ten und in lokal­pa­trio­ti­scher Wei­se des nun zu Ende gehen­den Fes­tes gedacht. Sein Hoch galt der Stadt Bie­den­kopf. Ges­tern Nach­mit­tag war wie­der­um der See­wa­sem das Ziel vie­ler Men­schen, die sich beim guten Trunk gemüt­lich zusam­men­fan­den und die Ereig­nis­se der Fest­ta­ge bespra­chen. Die Jugend aber hul­dig­te dem Tan­ze. Wer weiß, was Gott Amor wie­der alles ange­rich­tet hat!

Heu­te rei­sen schon vie­le Grenz­gangs­gäs­te wie­der ab, mor­gen wer­den die Fah­nen ein­ge­zo­gen, die wel­ken­den Guir­lan­den besei­tigt und der All­tag tritt in sei­ne Rech­te. „Nichts ist schwe­rer zu ertra­gen, als eine Rei­he von guten Tagen!“ Wer soll­te die Wahr­heit die­ses Sat­zes heu­te nicht bestä­ti­gen wol­len!? Aber herr­lich waren sie, die hin­ter uns lie­gen­den Tage, wer macht uns Bie­den­köp­fer ein sol­ches Fest nach? Man­cher­lei hät­te ich Dir noch zu erzäh­len, aber über das gro­ße Gan­ze ver­gißt man Ein­zel­hei­ten, die oft so über­aus lus­ti­ger Art waren. Sobald ich eine gelun­ge­ne pho­to­gra­phi­sche Auf­nah­me haben kann, sollst Du sie bekom­men. Viel­leicht von dem Zwerg-Wett­läu­fer, der den gro­ßen nach­zu­ei­fern sich bemüh­te, viel­leicht von dem Mäu­se­turm mit dem Rit­ter von der trau­ri­gen Gestalt. Mög­li­cher­wei­se haben die Thau­wink­ler ihre zer­bro­che­ne Fah­nen­stan­ge pho­to­gra­phie­ren las­sen, oder die Hos­pi­tä­ler sorg­ten dafür, daß ihre Grup­pe mit den ein­heit­li­chen grü­nen Stroh­hü­ten im Bild fest­ge­hal­ten wur­de. Wenns geht, mache ich mal eine Sta­tis­tik auf über die ver­kon­su­mier­ten Eßwa­ren und das ver­tilg­te Bier. Zur ers­ten Kar­tof­fel­brat­par­tie aber erwar­te ich Dich bestimmt. Tau­send Grü­ße aus der Hei­mat. In alter Treue

Dein ***